Leserbrief zu „Erneut Welle von Protesten in Deutschland“ in der NZZ vom 24.08.2004, S. 1.

 

Im letzten Abschnitt des Artikels von eg. aus Berlin werden die Bürger der neuen Bundesländer, die sich als Bürger zweiter Klasse fühlen, kräftig abgekanzelt:

-         Es seien gemessen an der Höhe der pro Kopf ausbezahlten staatlichen Leistungen, eigentlich Bürger erster Klasse.

-         Man war im Osten niemals wirklich genötigt, sich über die eigene wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und die Ausgangsbedingungen im Jahr 1990 Rechenschaft abzulegen.

-         Die Ostdeutschen sollen sich nicht nur am westdeutschen Lebensstandard orientieren, sondern auch Länder wie Polen, Tschechien und die Slowakei betrachten.

Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Es ist aber eine bodenlose Frechheit und widerliche Heuchelei, wenn den Ostdeutschen unterstellt wird, sie seien geldgierig, arbeitsscheu und Jammerlappen.

Die Ausgangsbedingungen 1990 waren folgende: In einem Westdeutschland, wo ohnehin der Mittelstand schwach ist, machten sich die grossen mit dem Staat und seinen Politikern verbandelten Konzerne auf, um das neue Territorium wie ein Feindesland zu „erobern“. Sei es Telekommunikation, sei es die Elektrizitätswirtschaft, seien es Banken, seien es die grossen Kaufhausketten: überall wurde das vorhandene in den Boden gestampft und westlicher Import an seine Stelle gesetzt. Der Kommunikationsstil ähnelte dabei (und ähnelt auch heute 14 Jahre später noch) demjenigen eines Kolonialherren gegenüber den „Eingeborenen“. Diesen Einheimischen wird von keinem Elektrizitätswerk, von keiner Telekommunikationsfirma, von keiner Bank, von keiner Kaufhauskette ein Auftrag oder eine Arbeit angeboten. Vielmehr holen sich diese Grossbetriebe für jeden Hennenschiss ihre Experten aus dem Westen. Schliesslich geht es ja um die Verteilung der erwähnten hohen staatlichen Leistungen pro Kopf der ostdeutschen Bevölkerung. Diese lässt man natürlich lieber seinen Brüdern im Westen zukommen. Die gesamten Ostsubventionen kommen nicht den Ostdeutschen zugute, sondern werden von den neuen Kolonialherren vertilgt.

Ein eigener Mittelstand hat daher in den neuen Bundesländern keine Chance und die neuen Kolonialherren haben immer noch Mühe, wenigstens die Kaufkraft mit Hilfe staatlicher Subventionen zu stützen.

Die meisten Ostdeutschen wollen – wie auch die Westdeutschen oder Schweizer – ein erfülltes Leben führen. Dabei ist die monetäre Gleichstellung mit dem Westen eher Nebensache. Wichtig wäre, dass die Arbeitslosigkeit der 20-30-jährigen unter 5% zu liegen kommt. Wichtig wäre eine Wertschätzung für die eigene Person und die eigene Leistung. Es war ja damals der vielgeschmähte Lafontaine, der eine monetäre Wiedervereinigung noch etwas hinausschieben wollte, wie das in Tschechien und Polen der Fall war. Die Ostdeutschen wurden zum Vergleich mit dem westdeutschen Lebensstandard durch die Einführung der D-Mark durch Kanzler Kohl gezwungen.

Insofern ist es auch irrelevant, ob die Ostdeutschen bei Hartz X zu den Nettozahlern gehören oder nicht. Einsacken werden die Staatssubventionen ohnehin die Kolonialherren. Dagegen protestiert man halt etwas wenig zielgerichtet jeden Montag.

In der heutigen Situation müsste jede Firma in Ostdeutschland, die Aufträge an lokale Lieferanten gibt oder Arbeitsplätze für die lokale Bevölkerung schafft, ökonomisch bessergestellt werden. Man könnte zum Beispiel in einem solchen Fall die Mehrwertsteuer halbieren o.ä. Gleichzeitig wären die staatlichen Zuwendungen abzusetzen, von denen ohnehin nur die Grossfirmen aus dem Westen profitieren. Hartz-Vorschläge, die wie der NZZ-Artikel den Ostdeutschen Geldgier und Arbeitsscheu unterstellen, verdienen in einer Abstimmung mit den Füssen niedergetreten zu werden.

Vielleicht verkehrt sich diesmal die Geschichte und liefert bei Wiederholung der deutschen Revolution die Tragödie nach.

 

Hartwig Thomas, Zürich