Der neue Film: „Meine Freunde in der DDR“ 

Das slawische Element 

Die Entdeckung der Exotik im östlichen Amberland

Am 15. und am 22. Oktober 1989 konnten Zürcher Kinogänger den neuen Dokumentarfilm „Meine Freunde in der DDR“ von Lucienne Lanaz in Sonntags-Matineen des Filmpodiums sehen. Auch ich war am zweiten Sonntag als Zuschauer und Zuhörer bei der nachfolgenden Diskussion mit Lucienne Lanaz und einem der im Film Porträtierten, dem Autor Wolfram Witt anwesend. Die Präsentation der DDR an diesem Sonntagvormittag hat mich zunehmend irritiert. Die Irritation verstärkte sich in Diskussionen mit Freunden aus der DDR, die den Film mit uns .zusammen angeschaut hatten. Ich möchte hier keine gebildete Rezension von Lucienne Lanaz' Dokumentarfilm geben. Ich verstehe kaum etwas vom Film. Als Freund von Lucienne fühle ich mich aber verpflichtet aufzuschreiben, was mich gestört hat, denn nur von Freunden kann brauchbare Kritik kommen. Als regelmässiger Besucher der DDR glaube ich auch für meine Freunde in der DDR eine Lanze brechen zu müssen, weil der Film droht, einen in der Schweiz populären Satz von Vorurteilen über die DDR mit einem neuen Satz noch schieferer Vorstellungen zu ersetzen

Der Film und die Diskussion hinterlassen bei mir den Eindruck eines "Kulturfilms" über Südseeinsulaner. Schweizer Missionare oder Ethnologen präsentieren das künstliche Paradies der ursprünglichen Natürlichkeit der Eingeborenen. Gleichzeitig blinzeln sie dem zivilisierten Zuschauer durch die Linse der High-Tech-Kamera zu: Alle wissen, dass es sich halt um arme Wilde handelt. Lucienne Lanaz wurde gefragt, was sie an der DDR und ihren Freunden denn so fasziniert habe, dass sie die Mühe auf sich genommen hat, einen Dokumentarfilm über sie zu machen und ihn der Schweizer Öffentlichkeit zu präsentieren. Sie antwortete, der Kernpunkt sei wohl die Faszination des „slawischen Elements“, das sie in der DDR verspüre. 

Keine Brötchen in Berlin

Wolfram Witt, der Gast aus der DDR, doppelte dann auch gleich mit einer erklärenden Interpretation nach. Als Drehbuchautor von Spielfilmen hat er verschiedene Preisverleihungen bei Festivals in Berlin (West) und Leipzig miterlebt. Während er sich in Leipzig wohlbehalten im Schosse seiner Freunde befand, stand er in Berlin für fünf Minuten im Rampenlicht, wurde dann fast grob zur Seite geschubst, als die Medien genug von ihm hatten. An sein Bedürfnis, auch nur ein Brötchen zu essen, dachte niemand. Aus Devisenmangel ist er auch schon nachmittags schnell nach Hause gefahren, hat sich dort ein paar Stullen geschmiert und ist am Abend wieder in den Glitzerrummel auf der anderen Seite der Mauer getaucht. 

Für Witt ergibt sich das „slawische Element“ aus einern platten Vergleich der Systeme: im Westen Herz- und Gedankenlosigkeit, im Osten Geborgenheit. 

Glücklicherweise hat sich Lucienne Lanaz in ihrem Film nur selten auf einen – immer notwendig schiefen – Vergleich zweier Weltsysteme eingelassen. Als Besucher der DDR haben wir ihre Ungastlichkeit häufig genug zu spüren bekommen, um zu wissen, dass man sich überall um seine eigenen Brötchen kümmern muss, wo man keine guten Freunde hat. 

Ein jugendlicher DDR-Bewohner, der vor zwei Jahren die Schweiz besuchte, war am tiefsten beeindruckt von einer Dienstleistung der Postautobetriebe der Schweiz: das letzte Postauto aus einem kleinen Seitental kam nicht fahrplanmässig an. Telefonisch erfuhren wir, dass es einen Motorschaden hatte. Sieben Minuten nach der fahrplanmässigen Abfahrt fuhr ein Volvo bei der Haltestelle vor. Die Freundin des Buschauffeurs fuhr die Strecke im Privatwagen ab, damit keine Reisende im Entlebuch stecken blieben oder ihre Anschlüsse verpassten. Am SBB-Bahnhof, wo wir umstiegen, hatte der Stationsvorstand den Zug ein bisschen verzögert, weil er wusste, dass wir leicht verspätet eintreffen würden. Diese alltägliche Begebenheit beeindruckte unseren Besucher tiefer, als unsere Kaufhäuser, unsere Computer und unsere Autos. Auch in der DDR kommt es vor, dass öffentliche Verkehrsmittel ausfallen. Niemandem würde es aber einfallen, sich um wartende Fahrgäste zu sorgen. Die Herzlosigkeit ist also in beiden Systemen bestenfalls selektiv. 

Die patriarchalische Haltung von Lucienne Lanaz' Darstellung der DDR in ihrem Kulturfilm findet ihre Spiegelung in der Erwartung des DDR-Bewohners, das System müsse an seine Brötchen denken. Die Beschneidung selbständigen Handelns hat bei einigen DDR-Bürgern zur totalen Erwartungshaltung geführt. In der heutigen Bewegung an allen Fronten ist dieser internalisierte Patriarchalismus des Systems die denkbar schlechteste Ausrüstung. Wir wünsche unseren Freunden in der DDR, dass ihnen möglichst wenige Brötchen von den jeweils herrschenden Umständen vorgekaut werden, damit sie nicht einer satten Schläfrigkeit verfallen. 

Das slawische Element und die Ökonomie

Lucienne Lanaz meinte wohl mit ihrem „slawischen Element“ folgende für Schweizer Besucher auffälligen Unterschiede im Lebensrhythmus des Alltags in der DDR, die sie auch in ihrem Film andeutet: 

Lucienne Lanaz hat diese Unterschiede als gute Filmerin präzis beobachtet. Die Diskrepanz zum DDR-Bild der Schweizer Medien (Bundesbürger sind da bedeutend besser informiert!) hat den Eindruck verstärkt. Wie viele andere Schweizer Besucher der DDR liess sie sich von der überraschenden Harmlosigkeit des DDR-Alltags zu Interpretationen in ihrem Film hinreissen, die ein ebenso verzerrtes Bild der DDR enthalten, wenn auch ein anderes. 

Zur menschlichen Langsamkeit in der DDR fällt mir ein Gespräch eines Professors in Ostberlin mit einem Glaser auf seiner Veranda ein. Es trug sich im Frühling 1988 zu. Der Glaser erzählt, er habe einen Ausreiseantrag gestellt. Der Professor fragt ihn nach seinen Gründen. Der Glaser gibt an, Politik interessiere ihn nicht, aber er wolle auch etwas haben von seiner Arbeit. Er sei nicht sehr geldgierig, aber das Konsumangebot in der DDR sei doch unerträglich klein. Als erwachsener Mensch wolle er nicht von allen Behörden wie ein Kindergartenschüler behandelt werden. Er sehe nicht ein, warum im Arbeiter- und Bauernstaat nur die Kader, nicht aber die Arbeiter und Bauern Reisen ins Ausland machen dürfen. Der Professor meinte, wenn er und alle die so dächten nur etwa 30% mehr produzieren würden – was sie im Westen ja unter ökonomischem Druck ohnehin täten und wozu sie auch fähig seien –, dann könnte die DDR die Kaufhäuser füllen, hätte genügend Devisen, um Reisen zu ermöglichen und könnte vielleicht sogar auf die Mauer verzichten. Der Glaser gab aber zu bedenken, dass er zwar schon doppelt so schnell arbeiten könnte, dass ihm dann aber sein planmässiger Glasvorrat schon in der Wochenmitte ausgehe . . . 

Die Lockerheit der sozialistischen Lebensweise wird für den Schweizer doch stark relativiert, wenn er mit seinen Freunden nicht nur am frühen Feierabend als Besucher zusammen ist, sondern mit ihnen zusammen zwischen vier und fünf aufsteht, damit er nach Frühstück und Kinder-Abliefern und Verkehrsstress um sechs zu arbeiten beginnen kann. Der auf fünf Uhr gestellte Wecker kommt in Lucienne Lanaz' Film leider nur 0.5 Sekunden lang vor. Wenn die Besucher aus dem Westen wieder gegangen sind, geht man dementsprechend auch schon zwischen neun und zehn ins Bett. 

Die vielgerühmte Wärme und Gemütlichkeit verbirgt doch manchenorts auch handfeste ökonomische Hintergründe. Im realen Sozialismus ist Geld ein wesentlich weniger wichtiges Zahlungsmittel, als bei uns. Die mit Geld kaufbaren Güter sind von untergeordneter Bedeutung. Dennoch gibt es natürlich hochgeschätzte und knappe Güter wie auch Zahlungsmittel, mit denen man sie erwirbt. Wenn der Auspuff am Trabant geschweisst werden muss, ist es lebenswichtig, jemanden mit einem Schweissgerät zu kennen, der einem hilft. Nur jahrelange Freundlichkeit und Gemütlichkeit mit allen und jedem sind Zahlungsmittel für solche Leistungen, die man nicht mit Geld kaufen kann. Der Stress, der sich daraus ergibt, alle die Leute, die einem mal nützen könnten, bei Laune zu halten, ist nur eine andere Fassade des uns wohlbekannten ökonomischen Stresses. Gewürzt wird die Situation nur durch ihre geringere Zuverlässigkeit (der Schweisser kann mal umziehen oder seine Grossmutter ist gestorben). Hinter der slawischen Gemütlichkeit zeigt sich der Stress durch Unsicherheit, der auch von Behörden kräftig warmgehalten wird. Wie ein Bekannter sagte: Wenn Du nach drei Wochen Rennerei eineinhalb Tage vor der Abreise immer noch nicht weisst, ob Du Dein Visum kriegst, dann ist Dir schon die Lust vergangen, überhaupt zu reisen. 

Wenn also in Luciennes gut beobachteten Film plötzlich mit dem erhobenen Zeigefinger und dem Blick auf unsere Wohnungsnot im Kommentar der Preis der Miete in der DDR mit 100 MDN/Monat hervorgehoben wird, ist dabei die Tatsache vernebelt, dass die Mehrheit der DDR im Alter von 18-20 heiraten müssen, um eine Wohnung zu ergattern. Auch sonst muss man – wie neuerdings auch in Zürich – mit so manchem „ins Bett“, bis man seine vier Wände organisiert hat. 

Die soziale Sicherheit schliesslich wird im Film von Lucienne Lanaz am Beispiel des Kinderjahres für DDR-Mütter oder -Väter ausführlich hochgejubelt. Sie ist tatsächlich eine nicht zu unterschätzende Errungenschaft des Systems. Nur weil die DDR-Jugend seit Jahrzehnten am eigenen Leib erfahren hat, dass sie keine (soziale) Angst zu haben braucht, verhält sie sich heute so eigenständig. Die Kehrseite der Medaille ist offensichtlich: ein echt soziales System ist praktisch schutzlos Parasiten ausgeliefert, die ihre Selbstverwirklichung auf Kosten des Systems treiben können. Wer sich sozial verhält bezahlt die Differenz. Die Ärztin erwähnt im Film, dass in der Abteilung alle entsprechend mehr arbeiten müssen, wenn eine Mitarbeiterin das Kinderjahr in Anspruch nimmt. Lucienne Lanaz' Freunde profitieren von den tiefen Mieten und der Krankenversorgung. Sie werden nicht darum herumkommen, an den Lösungen der Probleme des Gesundheitssystems mitzuarbeiten. Der Sozialismus braucht dauernd viel soziale Fantasie. 

Oberflächlichkeit des Dokumentarfilms

Es geht hier nicht darum, die Leistung von Lucienne Lanaz in „Meine Freunde in der DDR“ abzuwerten. Ihr Einsatz hinter den Kulissen war sehr gross. Jahrelang hat sie bei Behörden in der Schweiz und in der DDR um die Produktion dieses Films gekämpft. Vor dem Eintreten der jetzt ansatzweise sichtbaren neuen Offenheit in der DDR erforderte dies fast unmenschliche Mengen von Geduld, Kraft und Humor. Kaum weniger aufreibend war der Kampf mit den Schweizer Vorurteilen über die DDR und all den Institutionen, die besser als sie zu wissen glaubten, wie man die DDR darstellen müsse. Als erfolgreichste Schweizer Filmerin ohne Bundessubventionen (zehn Dokumentarfilme ohne Eidgenössische Förderung!) hat sie die gesamte Finanzierung des Films privat erarbeiten müssen. Es ist Lucienne Lanaz denn auch gelungen, ein recht frisches und wenig voreingenommenes Bild ihrer Freunde in der DDR zu präsentieren. 

Wenn nur nicht dieser unselige Kommentar wäre, das Insistieren auf Aspekten des „slawischen Elements“! Leider musste der Film nicht nur von diversen Behörden akzeptiert werden (die DEFA hat gegen Lucienne Lanaz' sauer erarbeitete Schweizerfranken Mitarbeiter zur Verfügung gestellt), sondern auch die porträtierten Freunde mussten grundsätzlich mit ihren Porträts einverstanden sein. So kommt es denn zu Ausrutschern, wo alle Freunde sich zu Besuchsreisen im Westen äussern, wie der Fuchs zu den Trauben! In einem Land, wo permanente Selbstzensur zum normalen Lebensgef??hl gehörte, kann eine solche Produktionsweise nur schwer die unterschwellige Verdrehung durch Zensurbestrebungen verhindern. 

In der Diskussion wehrte sich Lucienne Lanaz zu Recht gegen diejenigen „Intellektuellen“, die ihr statt der subjektiven Porträtierung ihrer Freunde alle möglichen politischen, gesellschaftskritischen oder sozialistischen Ziele unterstellen wollen. 

Eine Qualitätsprämie wurde ihr für diesen Film verweigert, weil er zu oberflächlich sei. Nichts abwegiger als dieser Vorwurf! Nicht an zuviel Oberfläche – dem ureigentlichen Tummelfeld des Dokumentarfilms – krankt dieser Film. Die tieferschürfenden „intellektuellen“ Fremdinterpretationen im Kommentar, im Drehbuch und z.T. in den Selbstdarstellungen ihrer Freunde (und daher zum Teil selbst in der Montage), welche mit Luciennes Freunden in der DDR kaum etwas zu tun haben, ruinieren den Effekt. Erst in dieser Interpretation verliert der Dokumentarfilm seine Unschuld. Hätte sie sich an die Oberfläche gehalten, mit dem Humor und der Beobachtungsgabe, die wir an ihren Filmen so schätzen, so hätten wir ihr diesmal als Zuschauer unsere Qualitätsprämie nicht versagen können.

Die Realität der DDR

Statt uns vom „slawischen Element“ in der DDR einlullen zu lassen, ist es für uns in der Schweiz wie auch für die Menschen in der DDR wohl am spannendsten, wenn wir uns näher kennenlernen und dabei auf Scheuklappen und Besserwisserei vorerst einmal verzichten. Für die meisten Schweizer ist es grundsätzlich nicht schwierig als Privatreisende oder Touristen die DDR zu besuchen. Wir können uns heute dort faszinieren lassen, von einem Filz, der noch vor wenigen Monaten starrer und unbeweglicher aussah als derjenige bei uns zuhause, der aber dennoch wider alle Erwartung in Bewegung gekommen ist. Vielleicht können wir daraus etwas lernen, wenn wir wach mit realen Freunden in der DDR reden. 

 

Hartwig Thomas, Gesellschaft CH-DDR, Sektion Zürich