Ein Fussball in Verona
Hartwig Thomas
Nach Verona reist man im allgemeinen, um die Arena zu bestaunen, einer Operninszenierung beizuwohnen, die Altertümer, Kunstschätze oder das Geburtshaus von Juliet Capulet zu besuchen. Auf einem Rundgang zu den etwas abgelegenen Giusti Gärten trifft man jenseits der Flussschleife auf die Kirche Santa Maria in Organo, deren schöner Turm zum Besuch des Kircheninnern verleitet. Aber nur wer dort nachfragt oder sich einer der Führungen anschliesst, entdeckt, dass er wenige Schritte von einem Meisterwerk der Intarsienkunst entfernt ist.
In der dunklen Apsis der Kirche befindet sich ein wundervolles Chorgestühl mit Intarsien von Fra' Giovanni da Verona (1457-1525). Die nebenan gelegene Sakristei dieses ehemaligen Klosters des Olivetanerordens, die Vasari (1511-1574) als die schönste in ganz Italien bezeichnet, enthält eine Sammlung von kunstvollen Einlegearbeiten sowie – in einem Fresko über der Tür – ein Porträt des Künstlers Fra' Giovanni. Dieser aussergewöhnliche Künstler brachte im Italien der Renaissance nicht nur die Intarsienkunst zu einem Höhepunkt, sondern betätigte sich auch als Bildhauer und Architekt: Der oben erwähnte elegante Kirchturm von Santa Maria in Organo stammt von ihm.
In dieser Sakristei stösst man unvermutet auf zwei der Mathematik gewidmete Intarsien aus der Zeit von 1519-1525, welche die besondere Aufmerksamkeit des mathematischen Touristen auf sich ziehen: Sähe man deren warmen Brauntöne und schimmernde Maserung in einer Reproduktion, könnte man auf den ersten Blick der Illusion erliegen, es handle sich um ein dreidimensionales Arrangement mit Kästchen, halboffenen Türen, Büchern und hölzernen Kantenmodellen der Polyeder. In Wirklichkeit präsentiert die Intarsie eine flache, lackierte Oberfläche. Die Täuschung ist der hohen Aufmerksamkeit des Künstlers auf die Gesetze der Perspektive zu verdanken und der Raffinesse, wie er sogar die Maserung des Holzes für diesen Zweck einsetzt. Unter dem Lack ist diese Intarsie aus hunderten kleinster Fournierstückchen verschiedener Hölzer zusammengesetzt, die auf einen Holzträger geklebt wurden.
Wenn man sich vergegenwärtigt, wie wenig Mathematik zu dieser Zeit bekannt war, erkennt man, dass nicht nur die Bilder mit vordergründig mathematischem Inhalt, sondern das ganze Werk von Fra' Giovanni von damals aktuellen mathematischen Themen und Techniken beeinflusst ist. Die systematische Erforschung der Perspektive und ihrer Gesetze hatte im 15. Jahrhundert beträchtliche Fortschritte gemacht. Es kursierten zwar Handschriften zu diesem Thema von Brunelleschi und Piero della Francesca unter Italiens Künstlern. Gedruckte Arbeiten über die Perspektive standen Fra' Giovanni jedoch nicht zur Verfügung. Am 13. Oktober 1506 schreibt etwa Albrecht Dürer auf seiner zweiten Italienreise aus Venedig an seinen Freund Willibald Pirckheimer: "Ich bin nach 10 Tagen hier frei, danach werde ich nach Bologna reiten, um der Kunst geheimer Perspektive Willen, die mich einer lehren will ...". Er könnte die Geheimlehre von der Perspektive von Luca Pacioli gelernt haben, dessen Buch De divina proportione in Venedig 1509 gedruckt wurde. Es enthält viele Konstruktionen und Zeichnungen, die nach Paciolis Angaben auf Modellen von Leonardo da Vinci beruhen.
Fra' Giovannis Intarsie enthält die Darstellung einer Campanus Kugel, eines Ikosaeders und eines abgestumpften Ikosaeders mit zwanzig Sechsecken und zwölf Fünfecken. Während die ersten beiden Polyeder auf Darstellungen in Paciolis Buch zurückgeführt werden können, ist für das Ikosaeder mit abgestumpften Ecken keine Vorlage bekannt.
Nur aus Sechsecken kann man keine geschlossenen Körper zusammensetzen. Für eine geschlossene Sphäre, die nur Fünfecks- und Sechsecksflächen enthält, benötigt man zwölf Fünfecke. Dieses Prinzip berücksichtigte auch der Architekt Richard Buckminster Fuller – wie Fra' Giovanni ein Anhänger des technologischen Designs – beim Bau seiner berühmten geodesischen Rundkuppeln, so etwa beim amerikanischen Pavillon der Weltausstellung von Montreal 1967.
Die einfachste kugelige Struktur dieser Art ist das schon Archimedes bekannte abgestumpfte Ikosaeder. Es spielt in der organischen Chemie in der Form des Buckminster Fullerens C60 eine prominente Rolle, einer organischen Molekülstruktur, die aus sechzig Kohlenstoffatomen besteht, die wie die Ecken des abgestumpften Ikosaeders angeordnet sind.
Sogar als Vorlage für den international standardisierte gewöhnlichen Fussball kann man Fra' Giovannis Abbildung verwenden. Es ist allerdings zu bezweifeln, dass das "Calcio" im Italien der Renaissance schon so beliebt war wie in der heutigen Zeit.
Benutzte Literatur:
Die wunderbare Web-Site von George W. Hart zum Thema Polyeder und über Mathematik und Kunst in der Renaissance bildet die angeführten Intarsien ab und enthält viel Information zum Thema.
Helmuth Gericke: "Mathematik im Abendland", Springer-Verlag, 1990 enthält eine ausführliche Beschreibung der Entdeckung der Perspektive im fünfzehnten Jahrhundert.