Denen, den'ns gut geht, ging's besser,
Ging's denen besser, den'ns weniger gut geht;
Was aber nicht geht, ohne dass's denen
Weniger gut geht, den'ns gut geht.
D'rum geht wenig, dafür dass's denen
Besser geht, den'ns weniger gut geht;
Und d'rum geht's auch denen nicht besser,
Den'ns gut geht.
(vorsichtig dem Deutschen angenähertes berndeutsches Chanson von Mani Matter)
Programmierer-Reisebericht 21.-25.3.1991
Als Besserwessi in Berlin(Ost)
Zwar sind wir als Experten für neue Computermedien aus der Schweiz nach Berlin eingeladen worden, einen Vortrag für arbeitslose Medienschaffende zu halten. Der nachstehende Bericht über dieses Wochenende handelt trotzdem nur wenig von Computern.
Gefahrstil
In Tegel holt mich Jochen mit seinem Wartburg ab. Er fuhr schon immer zügig und professionell durch „sein“ Berlin(Ost). Heute flucht er jedesmal laut, wenn die starken westlichen Wagen mit dem B die alten Ruinen mit dem I rücksichtslos an die Wand drücken, Geschwindigkeiten überschreiten, Fahrradfahrer anspritzen oder Einbahnstrassen missachten. Es ist, als ob jede Verkehrsunmanierlichkeit gegen ihn persönlich gerichtet wäre.
Während er mir einen knappen Bericht über seine eigene Situation und diejenige des Ostens gibt, suche ich nach Gründen für diesen eigenwilligen West-Ost-Fahrstil. Ein guter Teil der westlichen Verkehrsverbrechen geht bloss aufs Konto des natürlichen westdeutschen Selbstmord-Fahrstils, den die grossen deutschen Autofirmen mit totalem Sperrfeuer gegen jegliche Geschwindigkeitslimiten als Nationaldenkmal aufrechterhalten zu müssen glauben. (Und die machen uns in der Schweiz Vorschriften, wie breit unsere Strassen zu sein haben, wie schwer die deutschen Lastwagen sein dürfen, die auf ihnen fahren, und dass wir unsere Umweltgesetzgebung um zehn Jahre zurückschrauben sollen!)
Zum andern tun mir allerdings die Fahrer aus dem Westen leid, die gezwungen sind, Verkehrsregeln zu erraten, da in diesem Land das Geheimhalten von gesetzlichen Regeln zum nationalen Sport gehörte. Die totale Sesshaftigkeit und die Aussperrung aller Besucher hatte dazu geführt, dass man wichtige Verkehrsinformationen nur per Mundpropaganda zu verbreiten brauchte. „Man“ weiss einfach, was der Fahrschein in der S‑Bahn kostet. Weder auf den Automaten (zu 20, 30 und 50 Pfennig) noch sonstwo im personallosen S‑Bahnhof sind Angaben über Tarife, Strecken, Verbindungen angeschlagen. Wer sich als Besucher in Berlin(Ost) mangels Wegweisern mal in die Nebenstrassen verschlauft hat, dem bleibt manchmal nichts anderes mehr übrig, als die Einbahnstrasse in der Gegenrichtung.
Schliesslich spürt man im Verhalten und auf den Gesichtern einiger grossspuriger B-Fahrer das Auskosten ihrer Überlegenheit. Die Einheimischen Neger nimmt man nicht so recht wahr, Fussgänger und Radfahrer schon gar nicht. Der eigene Wagen ist einfach besser, wie sich auch die westliche Marktwirtschaft als besser erwiesen hat. Zur Bezeichnung "Wessi" und "Ossi" für die Bewohner der beiden Stadtteile hat sich der "Besserwessi" gesellt, der den armen Idioten im Osten mal zeigt, wo es lang geht.
Die I-Fahrer reagieren mit ohnmächtiger Wut und mit Eskalation. Aus klapprigen Trabants und noch ganz brauchbaren Wartburgs wird das letzte rausgequetscht. Der Wettlauf um die grössere Rücksichtslosigkeit nimmt groteske Formen an, in einer Stadt, wo die Verkehrspolizei noch nicht „abgewickelt“ ist, und wo man gelernt hat, jeglicher Polizei zu misstrauen.
Potsdam Kolleg
Das „Potsdam Kolleg“, eine neugegründete GmbH mit Aktivitäten auf den Gebieten Medienausbildung, Medienpolitik und Kultur hatte uns eingeladen, einen eintägigen Überblick über „neue Medien“ zu geben. Die rund fünfzig Zuhörer waren grossenteils arbeitslose Medienschaffende der DEFA, des DDRFernsehens etc. Unser besserwissender Wessi-Auftritt wurde etwas gemildert durch den exotischen und etwas schwerfälligen Schweizer Akzent. Auch suchten wir uns auf eine Darstellung unserer Tätigkeiten zu beschränken, ohne daraus gleich Handlungsanweisungen für unsere Zuhörer abzuleiten. Den meisten war Ted Nelsons Vision der Hypermedien, der interaktiven Kommunikation neu. Mit Überlegungen über den Verlust der Autorenschaft und des Werkcharakters interaktiver Medien konnten sie ohne eigene Erfahrung mit solchen Medien wohl noch nicht sehr viel anfangen. Als Antwort auf das momentane Problem der Arbeitslosigkeit kommen „neue Medien“ wohl auch nur unter Vorbehalten in Betracht: Der grosse Medienmarkt liegt heute noch bei den traditionellen Medien (Zeitschriftenverlage, Fernsehen, Film). Die Schwierigkeit für die Ossi-Medienschaffenden liegt nur darin, dass dieser Kuchen weitgehend aufgeteilt ist und dass die ebenfalls nicht auf Rosen gebetteten Medienschaffenden im Westen ausreichen, um die anfallende Produktivität zu leisten. „Neue Medien“ werden in naher Zukunft zwar an Bedeutung zunehmen, aber keineswegs so wichtig werden, dass sie alle arbeitslosen Gestalter zu beschäftigen vermögen. Der Vorteil der Betätigung auf diesem Gebiet liegt heute höchstens darin, dass dieser Kuchen noch nicht in verkrustete Grossstrukturen aufgeteilt ist, und dass die Sensibilität für das regionale Publikum bei interaktiven Medien eine eher grössere Rolle zu spielen scheint, als bei traditionellen Broadcast-Medien.
Bedenklich stimmt das Bild eines Landes, wo immer mehr Werktätige ihren Lohn vorn Arbeitsamt beziehen. Auch unsere Präsentation fand im Rahmen eines Umschulungskurses für Medienschaffende statt, der vorn Arbeitsamt bezahlt wird und dessen Teilnehmer vom Arbeitsamt in den Kurs geschickt werden. Wir lernen eine neue ostdeutsche Vokabel: ABM heisst Arbeitsbeschaffungsmassname. Dass die Verträge mit dem Arbeitsamt aus Gründen der im Umbruch begriffenen Bürokratie erst in mehreren Monaten zu Auszahlungen führen werden, mag man noch begreifen. Dass angeblich auf solche unterschriebenen Verträge mit dem Arbeitsamt von Banken kein Vorschusskredit auf die spätere Bezahlung durch das Arbeitsamt gegeben wird, lässt darauf schliessen, dass die Bank diesen späteren Auszahlungen nicht traut. Wurde vor der Währungsunion mit der Schreckensvision argumentiert, dass die Bundesbürger bei offenen Grenzen den Ossis das ganze billige Brot, das Bier, die Kinderkleidung und die Bücher wegkaufen könnten — was ja immerhin zu einer Anheizung der Produktion auf diesem Gebiet und einem erwünschten Kapitalfluss von West nach Ost geführt hätte — so kann man heute nur noch westliche „Schaumbrötchen“ zu westlichen Preisen mit westlichen Arbeitslosengeldern kaufen. Der Verlust an Produktivkraft hat sich als Pferdefuss der „geschenkten“ D‑Mark erwiesen. Der Osten funktioniert heute weitgehend nur noch als kurzfristige Durchlaufstation für diese Währung, über welche clevere, meist westliche, Geschäftsleute an die Bundesmilliarden für die Wiedervereinigung rankommen.
Abends spekuliert Jochen über die Einführung einer Konsumgenossenschaft, wie die Schweizer „Migros“ in Berlin(Ost). Von den Preisen her, wäre die Migros sehr konkurrenzfähig, da der Detailhandel im Osten heute eher teurer ist, als im Westen. Das enge Beziehungsnetz der Migros mit ihren regionalen Produzenten könnte der darniederliegenden Landwirtschaft neue Impulse geben. Der demokratische Aspekt von Duttweilers Wirtschaftsvision verhindert hier das Weiterspinnen: in einer denkwürdigen Genossenschafts-Abstimmung haben die Konsumenten der Migros vor einigen Jahren gegen den Willen der Geschäftsleitung dafür gestimmt, dass sich die Migros nicht im Ausland engagieren dürfe. Diesen damals gegen das Engagement in der dritten Welt gerichteten Beschluss, wird man nicht zugunsten Ostberlins sofort umstossen können, selbst wenn der Grund für den grossen Migros-Markt unbelastet von alten Rückgabeforderungen zu sehr günstigen Konditionen zur Verfügung gestellt würde.
Tuttifrutti
Am Samstag besuche ich Tante Rotraut. Diese ist Pfarrersfrau und hat gerade einen seltsamen Besuch. Der unbekannte Herr im gepflegten dunklen Mantel und mit dem breiten bayrischen Akzent fand sich wenige Minuten vor mir an ihrer Türe ein mit der Frage: „Kennen Sie einen gewissen Schmidt?“. Der Bayer nimmt knapp zur Kenntnis, dass ein weiterer Gast anwesend ist, und fährt fort, lautstark seine Leidensgeschichte zu erzählen. Bei deren neueren Stationen wirkt seine Darstellung etwas konfus. Die Aggression gegen dieses Land und die Misshandlungen, die es ihm zugefügt hat, erscheint völlig ungespielt. Es nützt Rotraut nichts, dass sie erwähnt, sie sei erst vor kurzem zugezogen. In aller christlichen Beherrschtheit, um die sich der Besucher sichtlich bemüht, entleert er seinen urbayrischen Hass gegen die Preussen, seine katholische Verachtung des Luthertums und seinen privaten Hass gegen Pfarrer Schmidt über sie.
Kurz nach dem Bau der Mauer 1961 sei er als junger Kirchenmann in einer Organisation tätig gewesen, die verbotene Medikamente vom Westen in den Osten schmuggelte. Dort übernahm eine kirchliche Stelle die Verteilung. Eines schönen Tages wurde er geschnappt, ein bisschen gefoltert und für drei Jahre eingesperrt. Er ist überzeugt, dieses Schicksal dem Pfarrer Schmidt zu verdanken, der damals schon Mitglied der Volkskammer und Anpassler war, wie die gesamte ostdeutsche Kirche. Ein weiterer Zusammenstoss mit der Stasi 1987 wegen einer Überschreitung des 24-Stunden-Visums soll mit Zigarettenbrandwunden auf den Oberschenkeln geendet haben.
Vor drei Wochen sei er mit einem Herzinfarkt bei Magdeburg an den Strassenrand gefahren und im Krankenhaus wieder aufgewacht. Die Volkspolizei und die Autobahnpolizei hätten so schlecht zusammengespielt, dass er im Zeitpunkt seiner Entlassung ohne Auto und ohne Geld und Papiere dastehe. Seine Tochter fahre von Nürnberg nach Berlin, um ihn nach Hause zu fahren. Sein „Spezi“ in Berlin sei leider über das Wochenende fort und nun vertreibe er sich die Zeit damit, nach dem Pfarrer Schmidt zu suchen, der ihn damals verpfiffen hat.
Rotraut verweist ihn an einen Pfarrer um die Ecke, der schon lange in der Gemeinde tätig ist, und ich gebe ihm zehn Mark, damit er sich bis zum Abend über Wasser halten kann. Wenn auch vieles konfus ist, was er erzählt, so sind das Bayrisch und das Leiden an der Vergangenheit kaum gespielt. Auch die Namen aus den sechziger Jahren scheinen zu stimmen, wie Rotraut später eruiert hat. Bevor er geht, erklärt er uns noch schnell die Lage der Christenheit: die Kirche im Osten habe im letzten Jahr 30% ihrer Mitglieder verloren! Das könne man doch nur durch die lasche Haltung erklären, die diese — wie Pfarrer Schmidt! — mit dem Teufelsstaat paktierende Kirche vor der Wende eingenommen habe. Diese Kirche müsse doch einsehen, dass sie ausgespielt habe. Die katholischen Brüder aus Bayern und die CSU müssten endlich nach Berlin kommen, und denen hier zeigen, wie man Kirchenarbeit und Politik macht.
Rotraut bekommt jetzt öfter solchen Besuch, sagt sie. Als Norddeutsche ist sie von der bayrischen Rhetorik mehr geschockt, als ich mit meinem Schweizer Kulturhintergrund. Die überall grassierende Aggression von Ost gegen West und von West gegen Ost wird wohl die innere Mauer noch lange aufrecht erhalten. Der erste Taumel der Wiedervereinigung ist vorbei. Die Kommunikation West-Ost ist zu einem Rinnsal zusammengeschrumpft, das bescheidener ist, als vor der Wende. Damit hier etwas zusammenwachse, müsste man vielleicht beidseits davon ausgehen, dass man die andere Seite noch nicht kennt. Der Kommunikationsvorteil der Schweizer in Berlin(Ost) besteht darin, dass man einander so wenig kennt. Die Berliner müssen uns erst kennenlernen. Umgekehrt weiss die Schweizer Ehegattin nicht nur nicht, was „PDS“ heisst, sondern wagt nach knapper Erklärung kaum mehr zu fragen, was denn nun „SED“ heisse.
Auf der Fahrt in der S-Bahn nach Charlottenburg leert sich der ganze Wagen vor dem Grenzübergang. Nachher füllt er sich wieder langsam mit Türken. Berlin(West) scheint sich langsam an Berlin(Ost) anzugleichen. Die Privilegien, der Spezialstatus (kein Wehrdienst) und die Subventionen zur Erhaltung der Halbstadt als Bollwerk gegen den Osten sind geschrumpft. Bonn kann nicht den „reichen“ Westen mit grossen Kultursubventionen weiterstützen, während im „armen“ Osten die Arbeitslosigkeit ins Unermessliche steigt. Die Auswanderungswelle aus Berlin(West) nimmt Ausmasse an, die an jene im Osten erinnert. Zurück bleiben Gastarbeiter.
Am Samstag abend sind wir ins Variete Chamäleon am Hackeschen Markt eingeladen. Einige arbeitslose Studenten einer Ballettschule haben sich vorn Film „Cabaret“ inspirieren lassen und eine Schau zusammengestellt, die sich ruhig mit ähnlichen Darbietungen in New York oder Prag messen darf. Die Aufbruchstimmung der dreissiger Jahre, die Trotzdem-Kulturtat der arbeitslosen Künstler, der lockere Zusammenschluss einzelner Artisten mit Spezialfähigkeiten vereinigen sich zum Stimmungsbild des heutigen Berlin(Ost), in dem heute die PDS erfolgreich zur ersten grösseren Demonstration seit der Wende aufgerufen hat.
Mit einer Liza-Minelli-Parodie und einer Elvis-Presley-Nachahmung mit einem halbstündigen Programm endet der Abend. Mein Schweizer Partner flüstert mir begleitet von „Tuttifrutti“ zu, dass er bis jetzt nichts von der den DDR‑Bürgern nachgesagten Lethargie und Bequemlichkeit gesehen habe, dass ihm diese Stadt vielmehr vor Unternehmergeist aus den Nähten zu platzen scheine.
Interkurs
Viele alte Institutionen haben sich unter westlichen Bedingungen gradlinig weiterentwickelt. Ein Grossteil der ehemaligen Intershops gehört heute zur Beate-Uhse-Kette und verkauft Prothesen für den Geschlechtsverkehr und diverse Ersatzbetätigungen.
Der ehemalige Staatssekretär für Kirchenfragen, dessen Aufgabe im Oktober 1989 noch darin bestand, kirchliche Presseerzeugnisse zu zensurieren und die Tournee von Kirchenchören im Westen zu verhindern, ist als hoher Kader in einer ostdeutschen Bank eingestellt worden. Dort sind anscheinend Experten für Linientreue, Zensur und Verhinderung gefragt.
Am Sonntag abend gehen wir mit guten Freunden ins Konzert. Der Konzertsaal ist prachtvoll. Da ich schon drei Nächte mehr mit Diskutieren als mit Schlafen verbracht habe, ist meine Aufnahmefähigkeit für die Musik nicht mehr ganz auf der Höhe. Auch hier wirds wohl nicht für die Weiterführung von zwei Renommier-Konzerthäusern reichen. Dasjenige in Berlin(Ost) würde jedenfalls einer Weltstadt Ehre machen.
Mit unseren Bekannten diskutieren wir noch in die Nacht hinein. Sie sind Musiker und eher wohlgemut. Objektiv geht es ihnen nicht anders, als denen, die jetzt jammern. Der Unterschied besteht darin, dass es ihnen vorher auch nicht anders ging. Das Berufsverbot für Aussenseiter war früher brutaler als die jetzige Arbeitslosigkeit für alle.
Trotzdem bedauert Hannes das Ausbrechen des rohen ,,Merkantilismus“ in der ehemaligen DDR. Früher hat es in der Nischengesellschaft Freundlichkeit, Menschlichkeit und Zeit füreinander gegeben. Jetzt werde man überrollt von „Bild“, Sexshops, Stress und einem höchst unzivilisierten Ellbogenkapitalismus. Ich glaube, dass es sich bei dieser grossen Enttäuschung der DDR‑Intellektuellen über ihr Volk um eine optische Täuschung handelt. Vor der Wende war der Merkantilismus so gross wie heute, die Währung aber bestand nicht aus Geld, mit dem man sich ja nichts kaufen konnte, sondern aus gegenseitiger Begünstigung. Für eine günstige Beurteilung des Antrags zur Westreise, für die Unterstützung beim Beschaffen der Ziegel für die Garage, für einen Studienplatz, für die gut gelegene Wohnung, für die Kaderposition bezahlte man nicht in Mark der Deutschen Notenbank, sondern mit Beziehungen, mit Gegenleistung und mit Prostitution. Dass die Ökonomie genau so hart war, wie heute, wurde verdeckt dadurch, dass man zu jedem freundlich sein musste, um einigermassen über die Runden zu kommen. Eigentlich liegt es in der Natur der Marktwirtschaft, dass sie besser funktioniert, wenn sie auf gegenseitigem Vertrauen in der Bevölkerung fusst. Schliesslich bedeutet einer ihrer zentralen Begriffe, das Wort „Kredit“ nichts anderes als „Vertrauen“. Diese gegenseitige Solidarität war schon vor der Wende nicht gegeben. Nach der Einführung der Marktwirtschaft, als nicht mehr die gegenseitige Begünstigung, sondern die D‑Mark zur neuen Währung wurde, konnte man den Anschein der Solidarität fallen lassen. Der „neue“ Merkantilismus ist vielleicht nur ein ehrlicherer Ausdruck des schon immer latenten Misstrauens eines jeden Ossis gegen die meisten andern Ossis.
Wenn neue Privatunternehmen im Osten Erfolg haben sollen, so ist die erste Voraussetzung wohl die, dass diese Aggressionen Ost gegen West, West gegen Ost und Ost gegen Ost offengelegt und verarbeitet werden. Der Kapitalismus wird so brutal sein, wie es die Menschen gegeneinander zu sein wünschen.
Veruntreuhand
Am Montag findet in Leipzig die erste grosse Montags-Demo seit der Wende statt. Am Alex prangt die gesprayte Hauswandinschrift „Veruntreuhand abhacken“. Die Ausreisewelle hat die Dimensionen vor der Wende wieder erreicht, nur dass man das Umsiedeln in ein und denselben Staat nicht mehr als Auswandern bezeichnen kann. Hunderttausende scheinen zu glauben, man könne das Rad zurückdrehen. Dies dürfte sich als ebenso aussichtslos erweisen, wie der Versuch gewisser Bonner Kreise an Stelle der alten Seilschaften noch ältere Seilschaften wieder einzusetzen. Bonns unscharfe Taktik in der Eigentumsfrage (Betriebseigentum, Wohneigentum, Grundeigentum) und das zögerliche Vorgehen der Treuhand hat die Wirtschaft gelähmt, die Investitionen behindert, die Wut gesteigert. Viele ehemalige Besitzer mit Rückgabeansprüchen sahen erst nach einiger Zeit ein, dass der erhoffte Profit den Aufwand nicht lohnt und haben freiwillig Verzicht geleistet.
Dass die Rückgabe den Besitzstand nach dem zweiten Weltkrieg wiederherstellen soll, ist umso stossender, als sich viele Klein- und Mittelbetriebe 1988 nicht entblödeten, das fünfzigjährige Jubiläum der Kristallnacht als fünfzigjähriges Bestehen ihres Geschäfts zu feiern. Die Vergabe des „volkseigenen“ Betriebseigentums an die Bevölkerung in Form von Anteilscheinen, wie sie von Bundesbankpräsident Pöhl vorgeschlagen wurde, wäre die in jeder Hinsicht systemgemässere Lösung gewesen. Da sich die Gangart der bundesdeutschen Bürokratie von besessener Betriebsamkeit letztes Jahr wieder zurückentwickelt hat zur alten DDR‑Gemächlichkeit mit allen Schikanen, droht diese ungelöste Frage im nächsten Jahrzehnt ungelöst zu bleiben. Im Interesse eines baldigen wirtschaftlichen Aufschwungs im Osten ist heute ein klarer Entscheid dringender als ein „günstiger“ Entscheid. Man möge die Grundstücke, Immobilien und Geschäfte zurückgeben an die Adligen, Industriellen, Juden und Altnazi-Erben und alle anderen ehemaligen Besitzer, die darauf Anspruch erheben. Wenigstens wären dann die Verhältnisse klar und man wüsste dann in einem privatwirtschaftlichen Kontext, wer wofür verantwortlich ist. Die heutige Verwaltung durch Bürokratie und die Verschleppung in Prozessen dient niemandem, ausser den Politikern, die sich mit dem geerbten Staatseigentum ein Mehr an Staatsrnacht zugelegt haben.
Bei Gerd in der neugegründeten „Punkt GmbH“ ist viel Betrieb. Die vier Gründer scheinen gut miteinander auszukommen. An Aufträgen aus Ost und West ist kein Mangel. Auch wenn die Kunden aus dem Osten langsamer und weniger zahlen und vielleicht das Einkommen der Mitarbeiter kaum höher ist, als das ABM-Einkommen wäre, strahlt der ganze Betrieb eine wohltuende Atmosphäre der produktiven, zielgerichteten Aktivität aus. Man hat kurz vor der Wiedervereinigung gegründet und von diesem Vorsprung etwas profitiert. Man traut einander und hat die komplizierten Arbeitsteilungsprobleme gelöst, wie sie auch in westlichen Selbstverwaltungs- und Jungunternehmer-Anläufen an der Tagesordnung sind. Obwohl eine grosse Anzahl neuer Werbefirmen in Berlin(Ost) aus dem Boden geschossen ist, leidet man nicht unter der Konkurrenz. Gerd bedauert, dass der Westen nur den östlichen Konsum, nicht aber die östliche Produktion fördert. Dass Büromieten in Berlin(Ost) doppelt so teuer sind, wie im Stadtzentrum von Zürich scheint auf eine Mischung von sozialistischer Wohnungssubvention und Wirtschaftsfeindlichkeit und falsch verstandener Marktwirtschaft zurückzuführen sein. Der Dienstleistungssektor muss unter den heutigen Umständen etwa gleich viel für den Arbeitsplatz, wie für den Arbeitnehmer aufbringen.
Gerd bedauert auch, dass die Gewerkschaften in Leipzig zu Streiks aufrufen, die dem Volk vorspiegeln, man könnte die Zustände vor der Wende wieder zurückhaben. Ihm ist klar, dass ein bürokratischer Beamtenstaat, der vorgibt, die schützenswerten sozialen Errungenschaften der DDR zu erhalten, der Bevölkerung gleich viel schaden muss, ob unter DDR- oder BRD-Flagge. Die ultimativen Gewerkschaftsforderungen nach staatlicher Garantie des DDR-Lebensstandards scheint ihm daher in die falsche Richtung zu zielen.
Wie auch schon das Potsdam Kolleg leidet die Punkt GmbH unter den schlechten Telefonverbindungen zwischen Ost und West. Man kann kaum vernünftige Geschäfte abwickeln, wenn man nach zwei Stunden Probieren (ohne Wiederholtaste) zum Betrieb im Westen durchdringt, erfährt, dass der dortige Geschäftspartner gerade in einer Besprechung ist, und sich dann aber nicht getraut, die Sekretärin ausrichten zu lassen, dieser möge zurückrufen, weil das zwischen 9 und 17 Uhr sowieso aussichtslos ist. Die mangelnden Kommunikationsmöglichkeiten führen zu einer erhöhten Autofahrfrequenz als Telefonersatz. Auch noch mehr Fahrradkuriere und Telefonstützpunkte im Westen der Stadt werden ihr Auskommen finden, solange die Siemens ihrem Grossauftrag, den Osten telefonisch aufzuforsten, nicht zum ersten fühlbaren Durchbruch verholfen hat.
Die moderne Computer-Ausrüstung der Punkt GmbH und deren souveräne Ausnützung der zur Verfügung stehenden Mittel (2 PC AT 286 für die Administration, 2 PC AT 386 mit Laserdrucker und Schneidplotter und modernstem Desktop-Publishing für die Produktion) beeindruckt auf den ersten Blick. Wo westliche Grafiker nur zögernd auf die neuen Produktionsmittel einsteigen, setzen ihre östlichen Kollegen voll auf diese moderne Technik. Während sich im Westen ein durch billige östliche Arbeitskräfte verstärkter Technologie-Rückstand bemerkbar macht, der von diversen postmodernen Geistesströmungen begünstigt wird, macht sich im Osten ein grosses Potential gut ausgebildeter Informatiker mit einem weltanschaulich unbelasteten Verhältnis zur Technik daran, den Westen technologisch zu überholen. Es ist zu hoffen, dass die Stärke auf diesem Gebiet einen Beitrag leistet an die wirtschaftliche Gesundung der „neuen Bundesländer“.
2. April 1991, Hartwig Thomas